Am 4. September fand der Ausflug der Christkatholischen Kirche beider Basel nach Thun statt. Da ich ja schon in Thun war, fuhr ich mit dem Velo zur Göttibachkapelle. Zuerst steig ich zum Aussichtspavillon des Jakobshübeli hinauf. Pfarrer Thomas Zellweger gab einen guten Einblick in die interessante Geschichte der Kirche. Anschliessend gab es ein feines z'Mittag im wunderschönen Schloss Schadau und eine kurze Führung in der Kirche Scherzlingen. Wir hatten grosses Wetterglück, die vorausgesagten intensiven Regenfälle blieben aus, es war der ganze Tag super Wetter.
Die Geschichte der Göttibachkapelle:
Von der Grösse her eine Kapelle, von der Bedeutung her eine Rarität: Das heute christkatholische Gotteshaus ist wahrscheinlich die älteste noch erhaltene Touristenkirche der Schweiz. Die einstige «Englische Kirche» ist ein klassischer Zeuge einer Epoche, welche die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz bis heute mitprägt. Das Phänomen einer neuen Naturbegeisterung, geweckt durch die enthusiastischen Schilderungen von Rousseau, Goethe und Schillers «Tell», liess unser Land kurz nach 1800 zu einem Hauptziel des internationalen Tourismus werden. Lieblingsdestination war neben dem Genfersee die imposante Gebirgslandschaft der Alpenregion. Hier zeigte sich Thun als «Tor zum Berner Oberland» mit seiner attraktiven, verkehrstechnisch günstigen Lage geradezu prädestiniert, eine Schlüsselfunktion zu übernehmen.
Das schnell wachsende Touristengeschäft wussten findige Unternehmer zielorientiert zu nutzen, allen voran die Thuner-Burger Familie Knechtenhofer, die sich als Hotelier-Dynastie faktisch eine Monopolposition zu sichern wusste. Der Pioniergeist der Knechtenhofers erkannte die Bedürfnisse einer anspruchsvollen, gut betuchten Klientel aussergewöhnlich früh und liess ab 1830 im Thuner Göttibachquartier ein wahres Hotelimperium entstehen. Das «Etablissement Bellevue» umfasste schliesslich neben den Hotels Bellevue (1831-34) und Du Parc (1840-42) auch einen feudalen Gesellschaftspavillon mit «Salons de Billard, de Réunion et de Lecture» (1856-62), sowie das Ländtehaus am See (1810/1831) mit einem hoteleigenen Dampfschiff (1835), dem ersten auf dem Thunersee. Umrahmt wurde das Ensemble von einem zugehörigen Landschaftspark «im englischen Geschmack» (1840). Speziell für den Tourismusbedart geschaffen, fanden sich darin eingebettet pittoreske Attraktionen wie der spektakuläre Aussichtspavillon auf dem Jakobshübeli. Dazu gehörte letztlich auch die heutige Beatuskirche.
Als «Englische Kirche» bezeichnet, entstand sie 1840-42 und war einerseits eine Parkzier im Stil der seit dem Barock beliebten Eremitagen, andererseits werbewirksam auf die religiösen Bedürfnisse des zahlungskräftigsten Kundensegments, der englischen Touristen, zugeschnitten - die Hotelbesitzer, die drei Gebrüder Knechtenhofer, verstanden als innovative Geschäftsleute das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden. Architekt war der auch im übrigen Bellevueareal tätige Christoph Robert August Roller
(1805-1858), bekannt für seine repräsentativen Villen im Oberaargau. Der Bau widerspiegelt noch immer die ursprüngliche Doppelfunktion. Weithin sichtbar, prachtvoll am Hang unterhalb des Jakobshübeli gelegen, doch in Gehdistanz vom Hotelkomplex, kombinierte er geschickt ein bequem erreichbares Aussichtsziel mit einem Ort der Andacht.
Obwohl explizit für den anglikanischen Kultus geplant, zeigt der Aussenbau im Gegensatz zu späteren Vergleichsbauten in anderen Touristenzentren keine englischen Reminiszenzen. Die Formen entsprechen einem einfachen, spätklassizistisch-biedermeierlichen Pavillonstil, wie er hierzulande gängig war. Dazu passt das Peristyl, die pfeilergestützte Vorhalle mit grossartigem Blick auf Thun und die Stockhornkette. Auf eine religiöse Nutzung weisen die neugotischen Spitzbogenfenster und der viereckige Dachreiter über dem talseitigen Giebel.
Für den Gottesdienst der anglikanischen Gäste sorgte der Chaplain, ein englischer Geistlicher, angestellt von der Hotelierfamilie gegen freie Kost und Logis; Kollekten durfte er für sich behalten. Die Kirchennutzung war nur für den Sommerbetrieb gedacht, eine Wintersaison existierte damals noch nicht. Dementsprechend hatte Roller den Bau kostengünstig in verputztem Fachwerk konzipiert. Bescheiden waren auch die Dimensionen des Chores, völlig ausreichend für eine wenig aufwendige Liturgie in der Diaspora.
Ebenso anspruchslos zeigte sich die Innenausstattung, denn diese blieb der Spendenfreudigkeit der englischen Gäste überlassen. So entstand die Ausgestaltung von Chor und Chorbogen erst 1905-06. Das sorgfältig geschnitzte Täferwerk in neugotischen Tudorformen schmückt die Altawand und die beiden Stirnseiten des einfachen Saalraumes, einen eigentlichen Altaraufbau gab es nicht. Wenig später folgte noch der etwas reicher verzierte Kanzelkorb von 1917.
Seit 1913 genossen auch die Thuner Christkatholiken Gastrecht in der Göttibachkapelle. Möglich war das dank der engen Beziehungen zwischen der anglikanischen Staatskirche und der christkatholischen Kirche der Schweiz. Nach dem Wegfall der englischen Touristen durch den Ersten Weltkrieg nutzte die christkatholische Gemeinde die Kirche allein. 1942 konnte sie das Gebäude von der Rechtsnachfolgerin der Dynastie Knechtenhofer erwerben, allerdings in desolatem Zustand; unter anderem war irgendwann auch der Dachreiter verschwunden. Die Rettung erfolgte 1946 durch eine eingehende, zeitbedingt nicht sonderlich sensible Intervention. Eine erneute Renovation versetzte 1994 Äusseres und Inneres wieder in den Zustand um 1920 und ermöglichte die Rekonstruktion des Glockentürmchens. 1999 erhielt die Kirche erstmals ein Patrozinium: Sie wurde dem «Apostel der Schweiz», dem Oberländer Heiligen Beat geweiht - aus der «Englischen Kirche» war nun offiziell die christkatholische Kirche St. Beatus geworden. Das kleine Gotteshaus war von Beginn an nur für eine überblickbare Besucherschar gedacht, die sich jeweils nach der Sommersaison wieder verlor. Somit waren auch keine Sozialräume eingeplant, denn diese fanden sich zur Genüge im nahen Hotelkomplex. Heute ist die Kirche das Zentrum einer festen Gemeinde, die das gesamte Berner Oberland umfasst und andere, weiterreichende Bedürfnisse hat, als die Touristen von ehedem. Dieser neuen Funktion sucht der Anbau eines Gemeindesaals Rechnung zu tragen.
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